UNERHÖRT

Sexualisierte Gewalt im freikirchlichen Umfeld

· Von Debora Höly

Jeden Tag werden in Deutschland 54 Kinder und Jugendliche Opfer von sexuellem Missbrauch. Es passiert überall – im Kindergarten, in Vereinen, in der Familie. Und im kirchlichen Kontext. Schon lange ist bekannt, dass ein Großteil der Missbrauchstaten im nahen sozialen Umfeld stattfindet und trotzdem möchte niemand das Unglaubliche denken: dass Kinder sexuellen Missbrauch oft gerade dort erleben, wo sie eigentlich geschützt werden sollten – auch innerhalb christlicher Gemeinschaften.

Als die Missbrauchsfälle der katholischen Kirche bekannt wurden, zeigten nicht nur Ungläubige höhnisch mit dem Finger auf die „anderen“, die ja mit Zölibat und hierarchischen Machtstrukturen Risikofaktoren hätten, die andere Konfessionen und Denominationen nicht haben. Doch dann erschien im Januar 2024 die Missbrauchsstudie der EKD und dieses Argument war nicht länger haltbar. Es seien genau solche Verweise auf „die anderen“ oder die Einordnung von sexualisierter Gewalt als gesamtgesellschaftliches Phänomen, die jahrzehntelanger Tabuisierung Vorschub leisteten, sagt Martin Wazlawik, Leiter der ForuM-Studie, in der die Missbrauchsfälle der Evangelischen Kirche offengelegt wurden. Unter seiner Leitung wurde offenbar: Auch innerhalb der Evangelischen Landeskirche und Diakonie hatte es tausende Opfer sexualisierter Gewalt gegeben.

Doch wie steht es um die Freikirchen? Sie sind strukturell flexibel, ihre Mitglieder engagieren sich ehrenamtlich und räumen der Familie einen hohen Wert ein. So etwas gibt es bei uns nicht. Das sind höchstens Einzelfälle, hieß es immer wieder in freikirchlichen Kreisen. Bloß kein zu großes Drama aus Einzelfällen machen, das würde die eigene Freikirche in Verruf bringen und nur eine Hexenjagd auslösen. Freikirchen sollten sich doch bitte auf den Kernauftrag der Gemeinde konzentrieren: das Evangelium zu verkündigen.

„Ich musste mit meinem Vater Pornos anschauen und sein Glied dabei halten“, „Ich wurde in der Ehe mit einem ‚gläubigen‘ Ehemann betäubt und vergewaltigt“, „Es kam zum vollzogenen Akt als Kleinkind mit meinem Vater“, „Er hat mir unter das T-Shirt gegriffen und meine Brüste gehalten. Ich musste auf dem Schoß sitzen bleiben und durfte nicht gehen. Er war und ist Gemeindemitglied“. Die Aussagen dieser Frauen stehen exemplarisch für hunderte Betroffene, die im freikirchlichen Umfeld sexualisierte Gewalt erfahren haben. Unter den 6.744 Teilnehmern der Online-Umfrage #Dunkhellziffer waren 1.034 Betroffene von sexualisierter Gewalt, davon 873 Betroffene, die heute in eine deutsche Freikirche gehen. Bei 466 Betroffenen kam auch der Täter aus einem freikirchlichen Umfeld.

Die 538 Kommentare der Betroffenen über die Art ihres erlebten Missbrauchs beinhalten Schilderungen von unsäglichem Leid, Brutalität und Entwürdigungen, die die Betroffenen am eigenen Leib erleben mussten. Die Hälfte der Betroffenen war unter zehn Jahre alt, als der eigene Vater, Bruder, Onkel, Opa oder ein Bekannter aus der Gemeinde sich das erste Mal an ihnen verging, 88 Prozent waren zu diesem Zeitpunkt minderjährig. In 85 Prozent der Fälle handelte es sich um sogenannte „hands-on“-Taten, also sexuelle Handlungen mit Körperkontakt.

Die 100 Seiten der Umfrageauswertung zeigen auf, dass es sich bei sexualisierter Gewalt im freikirchlichen Kontext nicht um Einzelfälle handelt. Sie zeigen auch auf, dass diese Straftaten bisher in großes Schweigen gehüllt waren. Viele dieser Taten sind tatsächlich so grausam, dass es schwer ist, Worte dafür zu finden. Doch es ist genau dieses Schweigen und Wegschauen, das eine Aufarbeitung für Betroffene fast unmöglich macht. Und es ist die Sprachlosigkeit und das Schweigen, die begünstigen, dass Kinder erstmals oder erneut zu Opfern werden.

Ein Kind, das sexuellen Missbrauch erlebt hat, braucht Experten zufolge bis zu acht Anläufe, bevor ein Erwachsener ihm glaubt. Überhaupt jemandem von sexualisierter Gewalt zu erzählen, erfordert großen Mut. Wie viel mehr Mut braucht das Kind, wenn es für das Geschehene möglicherweise kein Vokabular hat oder gar nicht einordnen kann, was da passiert ist. Mehr noch, wenn der Täter ein Familienmitglied oder guter Bekannter aus der Gemeinde ist, dem die Eltern vertrauen, oder ein Missionar, zu dem die ganze Gemeinde aufschaut. Wenn dieses Kind dann all seinen Mut zusammennimmt und jemandem davon erzählt, der ihm nicht glaubt oder sogar wütend reagiert, ist das nicht nur grausam, sondern erneut traumatisch. „Ich wurde hart bestraft dafür, dass ich mir sowas ausdenken würde“, schreibt eine Betroffene, die als Kind von ihrem Bruder und einem Verwandten missbraucht wurde. „Ich hätte mir gewünscht, dass meine Eltern mir geglaubt hätten. Aber mir wäre niemals geglaubt worden“, schreibt eine andere Betroffene. „Als Opfer ist man einfach nur lästig und hält den frommen Gemeindeprozess auf.“

Rund die Hälfte der Betroffenen durch Täter aus dem freikirchlichen Umfeld brauchte mindestens sechs Jahre, bis sie den erlebten Missbrauch jemandem anvertrauten. Das bedeutet: Zu viele Kinder blieben viel zu lange mit dem Unrecht allein – oft ihre ganze Kindheit und Jugendzeit, manche haben bis heute niemandem davon erzählt. 64 Prozent der Betroffenen durch Täter aus dem freikirchlichen Umfeld erlebten, dass ihnen entweder nicht geglaubt wurde, oder dass ihnen geglaubt wurde, aber niemand etwas unternahm. 75 Prozent begegneten ihrem Täter nach dem Missbrauch weiterhin regelmäßig, immer wieder führte dies den Kommentaren zufolge zu erneutem Missbrauch.

 „Beide Brüder haben meine Schwestern und mich ständig angefasst an Po oder Brüsten. Meine Mutter war der Meinung, wir wären selbst schuld, obwohl wir bei Kleidergröße 34 schon XL-Kleidung trugen, um alles Weibliche zu vertuschen.“ „Verschiedene verheiratete Männer über 50 in Leitungspositionen haben sich das Recht rausgenommen, mich als junge Frau in der Leitung im Kinder- und Jugendbereich bewusst am Po zu berühren und in Gesprächen keine körperliche Distanz zu bewahren; sie waren anzüglich und haben mich anscheinend ‚zufällig‘ anders berührt. Auf leise Hilfefragen kam die Antwort: ‚Das gibt es nicht‘, ich solle mich nicht so haben, ich solle Verständnis zeigen – ich wäre ja jung und hübsch, „da ist das so!“ Immer wieder beschreiben die Betroffenen, wie ihnen die Schuld oder Teilschuld gegeben wurde, wie die erfahrene Gewalt bagatellisiert und das Verhalten der Täter entschuldigt wurden. Derartiges Verhalten ist eine Täter-Opfer-Umkehr, die nicht nur die Augen verschließt vor dem, was ist, sondern auch ermöglicht, dass Übergriffe weiter stattfinden können und Betroffene weiter schweigen. Nach Aussage der Betroffenen waren es vor allem Eltern und geistliche Leiter, die ihnen am wenigsten glaubten – insbesondere dann, wenn der Täter ebenfalls aus einem freikirchlichen Umfeld kam.

Dieses Nicht-wahrhaben-Wollen und der Unwille, den Betroffenen zuzuhören, führen einerseits dazu, dass Betroffene sich allein gelassen fühlen und irgendwann nicht mehr den Mut haben, darüber zu sprechen. Andererseits führt es dazu, dass aus dem Fehlverhalten einzelner Personen ein strukturelles Problem werden kann. Denn wenn missbräuchliches Verhalten und das Schweigen darüber normalisiert werden, schützt das die Täter, während Betroffene im Stich gelassen werden.

Ja, es gibt Übergriffe durch Fremdtäter, die ihre Opfer willkürlich aussuchen und danach nie wieder sehen. Doch sie sind – genauso wie pädophile Täter – statistisch gesehen eine Minderheit. Die Ergebnisse der Umfrage lassen die Frage sehr laut werden, ob es in Freikirchen möglicherweise Strukturen gibt, die den Missbrauch begünstigen. Gleichzeitig muss an dieser Stelle gesagt werden, dass Freikirchen in ihrer Organisation und ihren Ausdrucksformen sehr unterschiedlich sind und es durchaus Gemeinden gibt, die für dieses Thema bereits sensibilisiert sind. Doch die Fülle an Erfahrungsberichten lässt nicht zu, über strukturelle Risikofaktoren hinwegzusehen. Sexualisierte Gewalt ist in jedem Fall ein komplexes und vielschichtiges Thema, das nicht mit simplen Schuldzuweisungen oder schnellen Antworten erledigt ist. Was vor und was nach dem Missbrauch stattfindet, ist von großer Bedeutung. Denn sexualisierte Gewalt findet nie in einem luftleeren Raum statt, in dem sich Täter und Betroffene allein begegnen. Sie findet mitten unter uns statt und ist in ihrer Zerstörung vor allem deshalb so mächtig, weil zu viele Menschen schweigen oder es als unproblematisch ansehen, wenn Kinder regelmäßig Grenzüberschreitungen ausgesetzt werden. Sexualisierte Gewalt gegen Kinder ist Machtmissbrauch und – mehr noch – Vertrauensmissbrauch. Denn die Abhängigkeit und das kindliche Vertrauen gegenüber den Bezugspersonen werden schamlos ausgenutzt und für die eigene Befriedigung missbraucht. Oder wie der ehemalige Generalsekretär der Weltweiten Evangelischen Allianz, Thomas Schirrmacher, einst sagte: „Sexueller Missbrauch ist eben nicht eine kranke Form von Sexualität, sondern eine besonders erniedrigende Form von Gewalt.“

Die Umfrageergebnisse zeichnen folgendes Bild: Sexueller Missbrauch findet in über der Hälfte der Fälle innerhalb der erweiterten Familie statt. Die Betroffenen sind zum Zeitpunkt der ersten Tat jünger, wenn der Täter aus dem familiären Umfeld stammt. Betroffene durch Täter aus einem freikirchlichen Umfeld gaben deutlich häufiger an, dass in ihrer Gemeinde eine strenge Sexualmoral herrschte, die Unterordnung der Frau wichtig war und Züchtigung im Rahmen der Erziehung praktiziert wurde. Spätestens an dieser Stelle wird die enge Verflechtung zwischen Familie und Freikirche und ihrer Theologie sichtbar. „Ich bin oft von meinem Ex-Mann zu Sex genötigt und einfach nur benutzt worden – gerne mit dem Argument, dass die Bibel ja sagt, dass man sich nicht entziehen soll“, schreibt eine Betroffene. Eine andere Umfrageteilnehmerin berichtet: „Ich wünsche mir, dass die Bibel nicht dazu gebraucht wird, Frauen und Kindern einen Maulkorb zu geben. Auch innerhalb der Ehe kommt dieser Missbrauch vor. In einem Seminar wurde von einem Gemeindeleiter erzählt, dass es ihm schwer fiel, eine Frau zu ihrem schlagenden Ehemann zurückzuschicken, doch er bezog sich auf Hagar, die von Gott wieder zu Sarah geschickt wurde.“

Das freikirchliche Umfeld lebt vor allem von der Gemeinschaft, zu der oftmals große Familien gehören. Das schreibt auch Christian Rommert, der Freikirchen zu Schutzkonzepten berät: „Bis heute leben Freikirchen noch immer von diesem Wir-Gefühl. In den Gemeinden findet sich ein Großteil des eigenen Freundeskreises. Die meisten Beziehungen spielen sich hier ab. (…) Das Vertrauen untereinander ist groß.“ Rommert, der sich ausführlich mit sexuellem Missbrauch in Freikirchen beschäftigte, nennt in seinem Buch „Trügerische Sicherheit“ folgende Risikofaktoren in christlichen Gemeinden: „das häufig sehr familiäre und sehr dichte Miteinander, das komplizierte Verhältnis zum Thema Sexualität, der Einsatz körperlicher Gewalt in der Erziehung, der Umgang mit dem Thema Gehorsam, der missbräuchliche Umgang mit dem Thema Vergebung, das Machtgefälle zwischen Mann und Frau, die Einstellung ‚Das gibt es bei uns nicht!‘.“

Wer also meint, die Missbrauchsfälle seien dem „ganz normalen“ familiären Missbrauch zuzuordnen, der allerorts stattfindet, sollte einen Moment innehalten. Zunächst: Jeder Fall von sexuellem Kindesmissbrauch ist furchtbar und bedeutet für das Kind oft jahrelanges körperliches und seelisches Leid. Darüber hinaus tut die freikirchliche Gemeinschaft gut daran, sich Fragen zu ihrer Lebensweise, Theologie und Umgang mit Macht gefallen zu lassen. Denn die Art und Weise, wie Kinder erzogen werden, der Stellenwert der Frau sowie die unhinterfragte Autorität geistlicher Leiter sind zumindest in Teilaspekten von der Theologie beeinflusst. Immer wieder schrieben Umfrageteilnehmer, dass körperliche oder sexuelle Gewalt mit Bibelversen legitimiert wurde, eine Übersexualisierung stattfand während gleichzeitig Sexualaufklärung oft ausblieb.

Auch der Umgang mit bekannt gewordenen Missbrauchsfällen wirft schwerwiegende Fragen auf. Betroffene berichteten, dass sie nicht gehört wurden, den Tätern sofort vergeben mussten, vor allem aber selbst beschuldigt und geächtet wurden: „Meine Freundin musste einen Jungen mit 17 öfter oral befriedigen. Er drückte ihren Kopf mit Gewalt runter. Noch in der Nacht vor seiner Verlobung mit jemand anderem. Als sie es einem Seelsorger erzählte, wurde dem jugendlichen Mann drei Mal das Dirigieren des Chores verboten. Danach war seine Strafe erledigt. Meine Freundin kämpft heute noch mit den Folgen.“ Eine Betroffene, die von ihrem Jugendkreis-Leiter sexuell missbraucht und mit einem Messer bedroht wurde, schreibt: „Meine Familie und ich wurden behandelt wie Tiere und es wurde über uns hergezogen und wir als Lügner dargestellt. Ich konnte nicht mehr schlafen, kaum essen und war so traumatisiert, dass unklar war, wie ich die nächste Zeit überleben sollte. Gemeinden stellen sich auf die Seite des Täters, weil sie sonst ihr Ansehen und ihr perfektes Aussehen verlieren. Das finden sie ganz arg schlimm und steht höher als das Wohl der Opfer.“ Rommert sagt diesbezüglich im Interview mit Deutschlandfunk Kultur: „Über einen langen Zeitraum wurde der Schutz der Institutionen höher bewertet als der Schutz der Kinder und Jugendlichen und der Betroffenen.“

Viele Betroffene äußerten in den offenen Kommentaren, dass sie als Kinder nicht gewusst hätten, was gesunde Sexualität ist und wo Missbrauch anfängt. Niemand hatte ihnen jemals gesagt, wo ihre Grenzen sind und dass sie diese verteidigen dürfen. Viele Betroffene schrieben, dass sie erst als Jugendliche oder Erwachsene aufgeklärt wurden und vorher kein Verständnis davon hatten, was sexualisierte Gewalt ist. Sexuelle Übergriffe in der Kindheit gehörten oft zum Alltag dazu: „Mit fünf bis sieben Jahren wurde ich auf den Schoß genommen, geküsst und gedrückt, und er hat sein erregtes Glied an mir gerieben oder gedrückt – allerdings in Kleidung und fast immer in voller Öffentlichkeit und Anwesenheit der Familie. Ich wurde von ihm festgehalten und musste auf dem Schoß sitzen bleiben. Es hieß nur, ‚Ach, der Onkel liebt Kinder so sehr!‘“ Dass die hier zitierten Kommentare allesamt von Frauen stammen, ist kein Zufall: Der Anteil der weiblichen Betroffenen in Freikirchen, bei denen auch der Täter aus einem freikirchlichen Umfeld stammt, liegt bei 94 Prozent.

In der offenen Schlussfrage der Online-Umfrage teilten knapp 1.800 Teilnehmer in teils sehr ausführlichen Kommentaren mit, was sie sich wünschen oder gewünscht hätten. Betroffene wie Nichtbetroffene wünschen sich vor allem ein Ende des Schweigens und einen ehrlichen und ganzheitlichen Umgang mit dem Thema Sexualität innerhalb ihrer Gemeinden. Die Kommentare zeigen auch, dass es einen riesigen Bedarf an Aufklärung, professionellen Schulungen und Anlaufstellen zum Thema innerhalb von Freikirchen gibt. Dazu gehören auch weibliche Seelsorger und Therapeuten für Betroffene sowie unabhängige Anlaufstellen, da die Betroffenen den eigenen Verbänden, Gemeinden und Leitern oft nicht vertrauen. Und immer wieder schrieben Betroffene: „Ich hätte mir gewünscht, mir hätte jemand geglaubt und gesagt, dass ich nicht schuld bin.“ Es ist Teil des kindlichen Vertrauens gegenüber seinen Bezugspersonen, dass das Verhalten der Erwachsenen in den Augen des Kindes immer richtig ist. Ein Kind sucht die Ursache für aggressives oder übergriffiges Verhalten vonseiten eines Erwachsenen stets bei sich selbst – umso mehr, wenn der Erwachsene ihm droht, körperliche Gewalt einsetzt oder dem Kind suggeriert, dass es den sexuellen Kontakt ja auch gewollt hätte.

Anzuerkennen, dass innerhalb der Freikirchen so viele Menschen sexualisierte Gewalt erfahren haben, verlangt sehr viel Mut. Denn in dem Moment gerät das eigene Weltbild – und nicht selten auch der Glaube und das Gottesbild – ins Wanken. Wenn aber das reflexartige Augenverschließen und die schnelle Vergebung keine Option mehr sind – was bleibt dann? Es gebe die Vorstellung, dass auf Schuld gleich Vergebung erfolgen sollte, sagt Co-Autor der ForuM-Studie Fabian Kessl. „Hier braucht es eine Auseinandersetzung mit der wahrscheinlich auch theologischen Frage: Wie kann man auch aushalten, dass es Schuld gibt in Kirche, ohne dass die schnell und überhaupt vergeben werden kann?“ Auf das Bekanntwerden von Missbrauchsfällen folgt nicht selten der Aufruf, den Tätern zu vergeben. Doch der Aufruf zu voreiliger Vergebung spricht den Betroffenen erneut ihre Würde ab, weil sie dadurch nicht ernst genommen werden. Ihr Leid muss und darf in einem ersten Schritt stehen bleiben und schmerzen. Vergebung ist wichtig, doch ob und wann Betroffene den Tätern vergeben, entscheiden allein die Betroffenen.

Der Jesuit Klaus Mertes tat einen mutigen Schritt, als er im Januar 2010 in einem Brief die Missbrauchsbetroffenen des Berliner Canisius-Kollegs um Vergebung bat. Als Erster stellte er sich unmissverständlich hinter die Betroffenen. Die Veröffentlichung des Briefes und der ersten Missbrauchsfälle löste eine Lawine aus. Mertes erkennt: „In der katholischen Kirche ist eine große Krise sichtbar geworden. Meine Hoffnung ist, dass das derzeitige System erneuert wird. Voraussetzung dafür ist: Wir müssen darüber sprechen, was uns Angst macht. Denn die Angst hindert uns zu hören, was uns die Opfer sagen.“

Eine dieser Ängste ist die Befürchtung, dass Menschen sich von den Kirchengemeinden abwenden würden, wenn das Ausmaß der Missbräuche bekannt wird. Die Präsidentin der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz, Rita Famos, hat dazu eine klare Auffassung: „Ich bin überzeugt: Menschen treten nicht aus, weil wir uns den Problemen stellen, sondern wenn sie das Gefühl haben, dass wir wegschauen. Es bringt nichts, wenn wir den Deckel so lange draufhalten, bis alles explodiert. Das Risiko ist größer, wenn wir nichts tun.“ Die Verantwortung, das Schweigen zu brechen, liegt dabei nicht zentral bei den Betroffenen. Dieser Ansicht ist auch Christina Clemm, die als Anwältin seit 30 Jahren Frauen vertritt, die Opfer von Gewalt wurden: „Oft wird vorwurfsvoll gesagt: Die Betroffenen müssen ihr Schweigen brechen. Das stimmt. Zuallererst müsste aber das gesamte Umfeld das Schweigen brechen!“ Die Betroffenen haben durch ihre Teilnahme an der Umfrage einen großen Schritt ins Licht gewagt. Manche von ihnen haben das erlebte Unrecht zum ersten Mal beim Namen genannt. Es ist jetzt an uns, ob auch wir einen Schritt auf die Betroffenen zugehen und ihren Worten Gehör und Glauben schenken.

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Ihr habt mich nie gefragt – jetzt frage ich euch

Ich wusste, dass ich schweigen soll und muss.
Schweigen, damit nichts kaputt geht,
schweigen, damit alles so weiter gehen kann.

Es ist mir zu einem eingebrannten Glaubenssatz geworden:
Wenn ich den Mund aufmache, dann geht etwas kaputt –
und das darf es auf keinen Fall!

So bin ich still – bis heute
und das Schweigen wurde für mein Herz zu einem brüllenden Orkan.

War irgendjemandem bewusst,
dass, wenn ich schweige, bleibt euer Konstrukt heile –
ABER ICH GEHE DABEI KAPUTT?
Ist euer Konstrukt mehr wert als ich?
Und warum ist es so wichtig, dass euer Konstrukt heile bleibt,
wenn es eigentlich kaputt macht?

Kann so etwas wirklich Gottes Wille sein?
Wie soll mein Herz glauben können, dass Gott gut ist,
mich liebt und es gut mit mir meint,
wenn es durch „wir machen das alles für Jesus“ kaputt gegangen ist?

Ich möchte euch nicht nur anklagen,
denn ich weiß, dass es auch für euch nicht leicht war.

Aber ich bitte euch,
erlaubt mir und uns den Mund jetzt endlich aufmachen zu dürfen
und unsere Geschichte zu erzählen –
um meinetwillen und derer, die vor mir waren und mit mir waren
und nach mir kamen und in Zukunft noch kommen werden!

— Sarah

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